Projekt [Projeto]

Kritische Übersetzung der Kinder- und Jugendliteratur von José Monteiro Lobato unter besonderer Berücksichtigung der darin abgebildeten brasilianischen Volkskultur

Das von Dr. Vanete Santana-Dezmann koordinierte Projekt widmete sich der Übersetzung des in der brasilianischen Kinder- und Jugendliteratur als moderner Klassiker geltenden Bandes Reinações de Narizinho (1934) von José Monteiro Lobato aus dem Portugiesischen ins Deutsche und deren Veröffentlichung in Buchform.

Unterstützt wurde sie dabei von Dr. Vejmelka und einer Gruppe von 13 Studierenden. Gemeinsam planten sie im Rahmen des innovativen Lehrprojektes eine eigene Übertragung des Werkes für ein deutschsprachiges Leserpublikum. Die Übersetzung wurde 2021 veröffentlicht.

Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Übersetzungsprozess sowie mit den Verpflichtungen und Grenzen der Übersetzer*innen beinhaltete die Kontextualisierung des Werkes, wie auch die Untersuchung der soziokulturellen Aspekte, die die Darstellung formen. Besonders im Bereich politisch nicht ganz korrekter Passagen im Werk Monteiro Lobatos, das zwar ein Teil der Kindheit mehrerer Generationen von portugiesischsprachigen Leser*innen ist, nicht zuletzt aber auch einen Einblick in die sozialen und kulturellen Dynamiken Brasiliens in den 1920er Jahren gibt und somit einen Teil der Geschichte und Identität des Landes darstellt.

Was als praxisnahes Lehr - & Lernprojekt einer Übersetzerwerkstatt konzipiert wurde, die durch die enge Zusammenarbeit zwischen Projektleiter*innen und Studierenden belebt werden würde, musste im Zuge der Covid-19-Pandemie komplett für ein virtuelles Arbeitsumfeld umgedacht werden. Räumlich zwar nicht mehr ganz so nah bei einander, aber dennoch im regen Austausch von Ideen wurden in regelmäßigen Videokonferenzen problematische Stellen analysiert, wurden Übersetzungsstrategien gesucht, die, wenn auch für die Ohren eines deutschsprachigen Leserpublikums ansprechend, den brasilianischen Geschmack beim Lesen nicht verlieren durften. Denn, wie von Dr. Santana-Dezmann angestrebt, sollte durch die Übertragung nicht zuletzt auch ein Brückenschlag zwischen der portugiesischsprachigen brasilianischen und teuto-brasilianischen Sprachgemeinschaft gelingen. Diese Diversität war auch in der Zusammensetzung der am Projekt beteiligten Übersetzer*innen erkennbar.

Dabei fordert die als "Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur" bezeichnete Geschichte von Narizinho (sprich: Narizinjo [IPA:na​ɾ​i​​z​ĩɲu]), dem Mädchen mit der himmelwärts geschwungenen Nase, von den Projektleiter*innen und den Übersetzer*innen nicht nur ein Gespür für die literarisch ansprechende Darstellung einer für viele unbekannten und neuartigen Flora und Fauna, die sich beinah wie eine Fantasiewelt liest, sondern auch eine kritische Stellungnahme zu den vielleicht weniger harmlosen und kindlichen Situationen, in denen Diskriminierung und soziale Ungerechtigkeiten thematisiert werden. Ziel dabei ist es, diesen Situationen weniger aufklärend als erklärend zu begegnen und einen Respekt vor der intellektuellen Eigenverantwortung der (jungen) Leser*innen zu wahren, und dennoch eine klare Position zu menschenfeindlichen Ideologien wie dem Rassismus zu beziehen.

Zu Beginn wurde das Werk in etwa gleichlange Textabschnitte eingeteilt und jede/r Studierende hatte die Möglichkeit nach einer ersten Lektüre, sich für das Kapitel zu entscheiden, welches sie/er übersetzen würde. Die endgültige Übersetzung des jeweiligen Textabschnittes, die zuvor in zwei Probeläufen korrekturgelesen und mit hilfreichem Feedback und Kommentaren versehen wurden, flossen am Ende des Semesters als Teil der Abschlussleistung des Seminars oder als Teil der Modulprüfung im Rahmen der Prüfungsordnung der B.A. - und M.A.-Studiengänge des FTSK ein.

Die von den Studierenden bearbeiteten Übersetzungen wurden in den von Dr. Marcel Vejmelka moderierten Videokonferenzen analysiert. Diese Übersetzungsprozesse bildeten die Grundlage für das stetig aktualisierte Glossar mit Übersetzungsvorschlägen und das eigens für das Projekt erstellte Wiki zu 'sprechenden Namen' und Kulturspezifika. Diese Dokumentation und Terminologiearbeit waren wichtige Werkzeuge für die Arbeit des Projektes, die den Übersetzer*innen helfen, für die Herausforderungen und Probleme der literarischen Übersetzung Strategien zu entwickeln, die im kritischen Umgang mit Übersetzungstheorien und ihrer Umsetzung einen Beitrag zur literarischen und kulturelle wie auch akademischen Gemeinschaft bedeuten können.

Da es sich um einen Text aus dem Brasilien der 1920er Jahre handelt, war eine der ersten Entscheidungen, die es zu treffen galt, wie fest die Geschichte in ihrem Entstehungskontext verankert bleiben durfte, um ihre Zeit widerzuspiegeln, und welche Aspekte möglichst unverändert in den Zieltext einfließen mussten, um den Ton des Originals nicht zu stark zu modernisieren. Welche der Aspekte lassen sich im Zieltext verwirklichen? Welche Entsprechungen gibt es im Deutschsprachigen Kulturraum?

Was kann eine Deutschsprachige Leserschaft unter „bolinhos de chuva“ verstehen? Wie übersetzt man beispielsweise einen „sítio“ ins Deutsche? Was ist ein Jabuticaba-Baum und welche Musik macht er? Gibt es eine deutsche Entsprechung für den „Saci“? Ist eine solche Entsprechung überhaupt sinnvoll? Da das Projekt nicht das Ziel hatte, den Text einzudeutschen, waren dies einige der Entscheidungen, denen sich die Übersetzer*innen stellen mussten, und das gleich an mehreren Stellen. Innerhalb des Projekts strebten die Beteiligten danach, einen Dialog mit einer anderen Kultur und mit der Kultur des Anderen zu schaffen. Auf diese Weise verstehen sowohl die erfahrenen wie auch die angehenden Übersetzer*inenn ihre Aufgabe als Überwindung von Verständnis - und Sprachbarrieren.

Juli 2020

[Silvano Loureiro Pinto]